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[studierende.aub] - 20. Dez 2024, 19:02

Adventskalender (21): Alles, was du je wissen wolltest: Die Bibliothek von Babel

"Als verkündet wurde, daß [sic!] die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wußten [sic!] sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgendeinem Seckseck."*
Eine Interpretation von Eric Desmazières
O Zeit, deine Pyramiden (von Antonia Frey)
Ruhelos und unvollkommen
Durchstreifst du das Universum.
Die einzige Welt, die du
Je kanntest
Ein Meer aus sinnloser Orthographie
Du watest durch endlose Weiten
Auf der Suche nach mir
Buch für Buch
Regal für Regal
Hexagon für Hexagon
Verliere dich bloß nicht selbst.
Du denkst, ich sei die Antwort
Auf alles, was dich treibt.
Bist du dir da sicher?
Denjenigen, die mich fanden
Geht es nun auch nicht besser
Ein trügerischer Schnipsel
Inmitten von wirrem Gemurmel
Verleiht verführerische Hoffnung
Mir endlich nah zu sein.
Aber denkst du das wirklich?
Setz dich hin, ruh dich aus
Von deiner endlosen Suche.
Sieh ihn dir an, näher noch,
Den Fetzen, der dich nicht schlafen lässt:
>O Zeit, deine Pyramiden.<
Deine Augen zerstechen das bleiche Papier,
Die schwarze Tinte zerläuft schon fast
- Und doch wirst du mir so nicht näher kommen.
Willst du ein Geheimnis hören?
Vielleicht ist es besser so.
Ich bin die Wahrheit, die den Traum zerreißt.
Versteckt in unendlichen Hallen
Damit du mich niemals findest.
Eine Interpretation von Andrew DeGraff
Gibt es etwas, das du schon immer wissen wolltest? Etwas Banales, wie die Fragen für die nächste Klausur, oder doch etwas Tiefgreifenderes, wie der Sinn nach dem Leben? Stell dir vor, es gäbe eine unendliche Bibliothek, in der theoretisch jede deiner Fragen beantwortet werden könnte. Hört sich das interessant an? Tja, das einzige Problem ist, das in der überwältigenden Mehrheit der Bücher in der Bibliothek von Babel nur sinnfreie Aneinanderreihungen von Buchstaben zu finden sind.
Die Bibliothek von Babel ist eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, die mit der Neugier und Hoffnung aller in der Bibliothek lebenden Menschen, die allgemein als Bibliothekare bezeichnet werden, spielt. Denn die Bibliothek ist in der Kurzgeschichte die gesamte existierende Welt. Sie besteht aus unendlichen Wiederholungen von sechseckigen Räumen, nebeneinander und übereinander, mit fünf Regalen an jeder Wand. In jedem Regal stehen zweiunddreißig Bücher des gleichen Formates, jedes Buch hat die gleiche Anzahl von Seiten, Zeilen pro Seite und Buchstaben pro Zeile. Die Buchrücken sind zwar beschriftet, aber die Schrift besteht wie die Seiten im Inneren aus vermutlich zufälligen Buchstaben.
Moment, vermutlich zufällig? Tatsächlich weiß der unbekannte Protagonist in der Kurzgeschichte recht wenig über die Welt, in der er lebt. Es gibt allerdings zwei Axiome, die die Gesellschaft allgemeinhin anerkannt hat: Zum einen existiert die Bibliothek ab aeterno und ist von einem Gott geschaffen worden. Zum anderen gibt es in dieser Welt fünfundzwanzig orthographische Symbole (Buchstaben, Punkt und Komma), die das chaotische Wesen der Bücher ausmachen. Außerdem konnten einige Bibliothekare im Laufe der Jahrhunderte die Hypothesen aufstellen, dass kein Buch doppelt existiert und alles, was sich irgendwie in Worte fassen lässt, irgendwo in der Bibliothek zu finden ist - in sämtlichen Sprachen. Wie man sich vorstellen kann, sind diese Annahmen aber umstritten und bieten Raum für verschiedene Weltanschauungen.
Man könnte es zum Beispiel keinem verübeln, wenn eine Person das ewige Durchstöbern in dieser Bibliothek für sinnlos hält und die Suche nach dem einen Buch, das alle Fragen beantworten kann, aufgegeben hat. Der Protagonist kennt auch Sekten, die sich in der Vergangenheit gebildet haben: Die eine wollte alle Bücher irgendwie durcheinanderwürfeln, bis per Zufall kanonische Bücher hervorkämen, eine andere hat es sich zur Aufgabe gemacht, Millionen von Büchern ohne sinnvollen Inhalt zu zerstören, um die Suche zu erleichtern.
Der unbekannte Protagonist hält nichts von diesen Leuten, er selbst ist weiterhin auf der Suche. Es gab mal ein Buch in der Nähe des Sechseckes, in welchem er geboren wurde, das - wie üblich- mit sinnfreien Buchstaben gefüllt war. Mit Außnahme der vorletzten Seite: >O Zeit, deine Pyramiden< steht dort geschrieben, ein Hoffnungsschimmer der Logik inmitten von Buchstabengewirr. Und so irren die Bibliothekare weiter durch die Bibliothek von Babel, auf der Suche nach etwas, das sie vermutlich niemals finden werden. Oder vielleicht doch?
(Meiner Meinung nach hätte der Gott, der die Bibliothek angeblich geschaffen hat, ruhig einen Katalog bereitstellen können, aber vermutlich würde das den Sinn der Kurzgeschichte sprengen. Bis dahin müssen wir uns wohl leider für die Klausuren auf die klassische Weise vorbereiten und den Sinn des Lebens selber herausfinden - auch ohne eine Bibliothek von Babel.)
Ich wünsche euch frohe Weihnachten, kommt zur Ruhe und habt eine gute Zeit.
Toni aus dem Kurs 24/27
* Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel. Reclam, Stuttgart 2020, S. 57–58.

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