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Adventskalender (10): In der Schusslinie - Kann ein Buch dein Leben retten?

Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Der schlaue Inspektor Spürnase hat den verschlagenen Gangsterboss endlich enttarnt. Pech nur, dass dessen Pistolenlauf nun direkt auf seine Brust gerichtet ist. Beschwichtigend hebt der Detektiv die Arme. „Ganz ruhig!“, sagt er, ob zu sich selbst oder seinem Gegenüber bleibt unklar. Die darauffolgende Stille wiegt schwer im Raum. Dumpf dringen die Geräusche der Straße in das kleine Büro oberhalb des Pubs. Von unten her glaubt man das Klirren von Gläsern und schiefe Seemannslieder zu hören. „Wir sollten diese Situation definitiv nochmal überde-“ Weiter kommt Spürnase nicht, denn ein krachender Schuss zerschneidet die Luft. Ein ungläubiges, schmerzerfülltes Stöhnen entweicht seiner Kehle, als er auf die Knie sackt. Seine Augen sind noch immer auf den Bösewicht gerichtet, der ihm einen letzten abschätzigen Blick zuwirft, bevor er schnellen Schrittes aus dem Raum marschiert und ihn zum Sterben zurücklässt. Die zitternden Hände des Detektivs wandern zu seiner Brust, doch als er an sich herabsieht, werden seine Augen noch größer als ohnehin schon. Ungläubig stellt er fest, dass die erwartete rote Blutlache auf seiner Jacke ausbleibt. Kurz glaubt er zu träumen, doch seine pochenden Rippen und das schrille Pfeifen in seinen Ohren belehren ihn eines Besseren. Vorsichtig prüfend beginnt er den fraglichen Bereich abzutasten. Etwas Hartes, auf Höhe seines Herzens, lässt ihn innehalten. Er braucht mehrere Anläufe, bis seine Finger das fragliche Objekt in seiner Brusttasche zu fassen bekommen. Der Schock weicht der Faszination, als er das kleine aber kompakte Notizbüchlein in seiner Hand betrachtet. Durch das Loch im Einband glänzt eine eiserne Kugel.
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So oder so ähnlich spielen sich besagte Szenen in Büchern und Filmen ab und sorgen für eine, mehr oder weniger erwartete, glückliche Auflösung eines dramatischen Schreckmoments. Ob nun Ned Flanders in „The Simpsons“, Thursday Next in “The Eyre Affair” oder Helen Brand in “Glass Onion”, so manchem Charakter hat ein gutes Buch schon wortwörtlich das Leben gerettet, während die Spannung uns als Lesern und Zuschauern oft ein paar Nerven kostet. Der Einsatz dieses Stilmittels erfreut sich schon seit den Anfängen des Kinos großer Beliebtheit, schließlich liebt jeder die unterwartete Rettung des Hauptcharakters. Ich meine, wie viel Glück muss man schon haben? Das gibt’s bloß im Film. Oder?
Das ruft nach einem Selbstversuch. Und nein, es wird selbstverständlich nicht auf Menschen geschossen. Ein Buch musste im Dienste der Wissenschaft jedoch dran glauben. Bei unserem Versuchsobjekt handelt es sich um einen AbiPlaner aus dem Jahr 2023. Es hat 128 gezählte Seiten und einen festen Einband aus Pappe. Geschossen wird mit einem Luftgewehr mit 4,5 mm Diabolos auf eine Entfernung von zehn Metern.
Die ersten Schüsse geben wir auf das Buch in geschlossenem Zustand ab (Schuss 1 und 2). Sie hinterlassen saubere Löcher im Einband, können diesen jedoch nicht durchschlagen. Schlagen wir das Buch auf, können wir auf der Innenseite des Einbands und den ersten Seiten gut sichtbare Dellen erkennen. Hat also der Einband die Kugel gestoppt?


Um dessen Festigkeit alleine zu überprüfen, schießen wir in geöffnetem Zustand auf seine Innenseite (Schuss 3). Diesmal wird kann ihn der Schuss vollständig durchdringen. Dies lässt darauf schließen, dass beim Abbremsen des Schusses das Papier die wichtigste Rolle übernimmt. Aus diesem Grund schießen wir noch mehrmals auf den Buchblock ohne den zusätzlichen Schutz durch den Einband. Hier dringen die Schüsse bis ungefähr Seite 20.
Nun könnten wir unsere These bestätigt sehen, schließlich hat das Buch die Schüsse aufgehalten. Da wir jedoch, aus rechtlichen Gründen, lediglich ein Luftgewehr als Versuchswaffe benutzen konnten, ist unser Experiment eher weniger repräsentativ. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit durch eine solche Waffe überhaupt lebensgefährliche Verletzungen davonzutragen eher gering.
Deutlich weniger strenge gesetzliche Rahmenbedingungen herrschen bekanntlich in den USA. Dort gibt es zahlreiche mehr oder weniger qualifizierte „Experten“ auf dem Gebiet der Schusswaffen, vor denen kein Gegenstand sicher zu sein scheint. Dankenswerterweise lassen einige von ihnen uns an ihren Experimenten auf YouTube teilhaben. Einer von ihnen ist Tate. Auch sein Luftgewehr kann nur wenig Schaden anrichten, aber er besitzt ein ganzes Arsenal an höheren Kalibern. Sehr zum Leid von Patrick, einer Ananas, die hinter den Büchern platziert wird und als Dummie herhalten muss.
Die erste Waffe ist eine .22 Kaliber Langwaffe mit Hohlspitzgeschossen, die beim Eindringen in das Ziel aufpilzen. Tate feuert sie auf eine Reihe von acht Büchern ab, doch die Kugel bleibt bereits im ersten Buch stecken.
Im nächsten Versuch kommt eine .223 Remington Patrone zum Einsatz, diese sind besonders beliebt und weit verbreitet. In diesem Fall reichen die acht Bücher nicht aus um die Kugel zu stoppen und sie bleibt schließlich in Patricks Grünzeug stecken.
Danach ist eine Pistole mit .380 FMJ Patronen an der Reihe. Hier kommt es zu einer Überraschung, denn trotz des größeren Kalibers schafft es die Kugel nicht einmal bis zum dritten Buch.
Von diesem Erfolg angespornt feuert Tate eine nur ein Kaliber höhere 9 mm Patrone aus seiner Pistole auf Patrick, der diesmal von nur drei Büchern geschützt wird. Tragischerweise können diese ihn nicht retten und die Kugel beschädigt die tapfere Ananas deutlich.
Leider fällt Patrick daraufhin einem nicht ganz erklärbaren Anfall von Schießwut zum Opfer und wird von Tate zu Matsch geschossen… Daraufhin nimmt seine Freundin Patricia, ebenfalls eine Ananas, seinen Platz ein.
Das Kaliber wird auf .40 erhöht. Da es sich aber erneut um ein Hohlspitzgeschoss handelt, wird die Kugel bereits im dritten Buch gestoppt.
Nun holt der Amerikaner seine ganz großen Waffen hervor. Die Patronen der Kalaschnikow haben einen Durchmesser von 7,62 mm und sind auf Durchschlagskraft ausgelegt. Doch Patricia hat Glück. Sie kriegt zwar einen ordentlichen Stoß ab, doch elf Bücher reichen aus, um die Kugel zu aufzuhalten.
Den Abschluss bildet eine .30-06 Patrone, die ungefähr 820 Meter pro Sekunde schnell wird und laut Tate ebenfalls eine enorme Durchschlagskraft besitzen soll. Mehr als sechs Bücher durchdringt sie aber nicht.
Schlussendlich bleibt die Antwort auf unsere Frage eher unbefriedigend. Ja, ein Buch kann einen Schuss abfangen. Die Betonung liegt hierbei jedoch auf „kann“. Denn schlussendlich spielen hier sehr viele verschiedene Faktoren, wie die Entfernung zum Schützen, das Kaliber und die Art des Geschosses und die Beschaffenheit des Buches, zusammen. Es gibt aber in der Praxis eine Vielzahl an Fällen, in denen ein Buch tatsächlich ein Leben gerettet hat.
Eine dieser Geschichten ist die des Australiers Graham Spinkston, der im September 1971 als Soldat im Vietnamkrieg gedient hat. Als Teil einer Nachschublieferung hatte er eine Ausgabe des Buches „The Taste of Courage“ erhalten, die seitdem in seiner Tasche lag. Er kam jedoch nie dazu es zu lesen, denn nur wenige Zeit später wurden er und seine Einheit in ein heftiges Gefecht mit nordvietnamesischen Soldaten verwickelt. Dabei wurde er von einer Schrapnelle getroffen und verwundet, woraufhin er evakuiert wurde. Als er das Krankenhaus wieder verließ und sein Gepäck zurückbekam, stellte er fest, dass im Buch eine Kugel steckte. Auf Anweisung seines Kommandeurs wurden Buch und Kugel ins Australian War Memorial gebracht, wo sie noch heute besichtigt werden können. Allerdings bemerkte jahrelang niemand, dass die dort ausgestellte Kugel nie abgefeuert worden war. Spinkston hatte sie nämlich ausgetauscht und trägt das Original noch heute als Glücksbringer an seinem Schlüsselanhänger bei sich.
Wer nun ein angeschossenes Buch einmal im echten Leben sehen will, der muss nicht bis nach Australien reisen. Die Fachbibliothek Englischer Garten der LMU ist nämlich im Besitz einer Ausgabe des siebten Bandes der „North American Ethnology“, die einem Schweizer Käse ordentlich Konkurrenz macht. Schon beim Aufschlagen des Buches fallen dem aufmerksamen Leser zwei ungefähr fingerspitzengroße Löcher ins Auge. Ein miteingebundener Zettel weist darauf hin, dass der Band wohl einer 22 Kaliber Waffe zum Opfer gefallen ist. Die hinteren Seiten hat es schlimmer erwischt. Einige davon wurden repariert, doch in der Mitte fliegt uns noch immer Konfetti entgegen.


Zum Schluss sollte noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass dieser Artikel nicht zur Gewalt gegen Bücher aufrufen will und wenn doch sollte es sich dabei bitte nicht um Bibliotheksgut handeln.
Und falls man doch einmal das zweifelhafte Glück hat in eine Schussbahn zu geraten, ist es nicht ratsam sich auf ein Buch zu verlassen, sondern stattdessen schnell das Weite suchen.
~L.B.
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Tate schießt auf Bücher und anderes Zeug:
https://www.youtube.com/watch?v=OkNPwMSZRFY
Die ausführlichere Geschichte von Graham Spinkston:
https://www.awm.gov.au/articles/blog/graham-spinkston-and-the-book-that-stopped-a-bullet